Samstag, 24. Januar 2009

Der Riese

Der Riese
Der Himmel über der Stadt hatte sich in der Nacht zugezogen, und auch als die große, an einem Reklameschild befestigte Uhr vor Pablo Velascos Geschäft im Erdgeschoss eines großen Renaissance- Bürgerhauses mit aufgeblätterter Stuckfassade an der Casa
del Campo den Nachmittag schon fast passiert hatte, war es zu keinem Zeitpunkt wirklich hell gewesen.
Rechts und links des schwarz- weißen Rundes mit den Zifferblättern hatte Maschinengewehrfeuer klaffende Lücken in das Weißblech mit dem aufgedruckten Firmennamen gefressen. Seltsamerweise war aber die Uhr verschont geblieben und ging unbeeindruckt weiterhin ihrer Aufgabe nach, ohne dass sich jemand für die Zeit interessierte. Passanten pirschten sich im Halbdunkel von Hauseingängen oder im Schatten von Alleebäumen die Straße entlang. Sie hatten ihren Blick auf die Häuserfront gegenüber gerichtet, von wo ein aufmerksamer Scharfschütze zuschlagen mochte. Von Bäumen verdeckte Fensterhöhlen , Erker und überdachte Bogengänge boten ein ideales Versteck, um in Ruhe zu zielen. Einige Fussgänger erstarrten nach einem Knall in der Bewegung und sanken wie umgestossene Schachfiguren zur Seite, während sie das Leben verliess..
Es war ein diesiger Tag Anfang November, der den Blick nur einige Meter weit reichen ließ und die Umrisse der Dinge verschwommen zeichnete.
Zwei Nonnen trotzten in ihrem gut sichtbaren pinguinartigen Habit der Gefahr , und gingen in der Mitte der Straße, wobei sie über jedem zerfetzten und verrenkten Bündel auf ihrem Weg das Kreuzzeichen in die Luft malten. Nur eine Barrikade aus zertrümmertem Hausrat, in die ein ausgebrannter und noch qualmender Panzer verkeilt war , zwang sie zu einem Umweg durch die angrenzenden Vorgärten.
Einschläge produzierten in unbestimmbaren Abständen Schockwellen, als würde ein wütender, Amok laufender Riese mit den Füßen aufstampfen. Manchmal folgte ein berstender Knall, nach dem zersplitterte Fensterscheiben wie scharfkantige, glitzernde Regentropfen auf die Straße rieselten.
Die internationalen Brigaden des Generals Kleber hatten die Faschisten am Morgen aus der Straße in Richtung zum Rio Manzanares zurückgetrieben. Francos über Radio Espana erklärte Absicht, am Abend des siebten November in Madrid der Messe beizuwohnen, hatte der Generalissimo bisher nicht in die Tat umsetzen können..
Er hatte sie aber auch noch nicht aufgegeben, und so brachte der Wind weiterhin vom anderen Ufer des Flusses das ferne Donnergrollen der Artillerie der Rebellen mit, etwas gedämpft durch den Regen..
Wessen Ohren von einem schrillen Pfeifen gellten, hatte vielleicht noch drei Sekunden Zeit. Dies konnte ausreichen, sich in Hauseingänge oder Kelleröffnungen zu flüchten oder noch einmal das Kreuz zu schlagen. Wolken aus aufgewirbeltem Steinstaub waberten über dem Universitätsviertel und der Casa del Campo und der Geruch von Asche und Schwefel hing auch über den angrenzenden Stadtteilen.
Und jedes Mal wenn sich der Nebel lichtete, wurden die Strassenzüge einem schadhaften , zahnlückigen Gebiss ähnlicher.
Ein viersitziger schwarzer Mercedes hatte offenbar schon einmal jemandem als Zielscheibe gedient und dabei einen Scheinwerfer eingebüsst. Jetzt versuchte das Automobil mit stotterndem Motor die Strasse zu passieren. Aus seinen Fenstern ragten Gewehrläufe wie achtsam aufgerichtete Tentakel eines das Steuer bedienenden Tintenfisches.
Der Fahrer fuhr mit hoher Geschwindigkeit und zeigte keinen Respekt vor leblosen Körpern auf der Fahrbahn, die Barrikade zwang ihn schließlich aber zum Halten.
Auf der entgegengesetzten , dem Fluss zugewandten Seite der Barrikade bog eine Gruppe Zivilisten in die Straße ein. Bewohner der Stadtteile auf der anderen Seite des Manzanares versuchten sich in diesen Tagen zu Tausenden vor den marodierenden marokkanischen Kolonialtruppen des Generals Emiliano Mola in Sicherheit zu bringen.
Voraus ging mühsam ein sehr alter Mann mit Baskenmütze, der von einem Spazierstock und einer jungen Frau in einem gepunkteten Kleid gestützt wurde. Zwei größere Jungen schoben mit von der Anstrengung geröteten Gesichtern Schubkarren vor sich her, die sich unter den Resten eines fluchtartig aufgelösten Hausstandes bogen. Zwischen Decken, Töpfen und in braunes Packpapier eingeschlagenen Gegenständen verschiedener Größe ragte der Stiel eines silbernen geschmiedeten Kruzifixes wie ein zum Himmel gereckter Zeigefinger heraus. Zwei Frauen in bodenlangen schwarzen Kleidern mit Kopftüchern und ein vielleicht zehnjähriges Mädchen beschlossen die Gruppe.
Auf der anderen Seite der Barrikade bestand die Besatzung des Mercedes aus vier hageren jungen Männern mit Baskenmützen und nervösen Bewegungen. Auf ihren zu einer Pyramide angeordneten Gewehren schimmerten Rostflecken.
Sie standen mit nicht angezündeten Zigaretten in den Mundwinkeln um den tuckernden Mercedes herum und bedachten abwechselnd den ausgebrannten Panzer, die unpassierbare Barrikade, und einander mit beklommenen Blicken.
Ein schlaksiger schnurrbärtiger Kerl , dem eine Sonnenbrille mit abgebrochenem Bügel aus der Hemdtasche lugte, zuckte schließlich die Achseln, und kramte eine Schachtel Zündhölzer unter den Augengläsern hervor. Das er nicht mehr die ganze Schachtel benötigen würde, konnte ihm noch nicht bewusst sein, als er reihum Feuer verteilte.
Der Milizionär zog nämlich an seiner Zigarette, schnippte das heruntergebrannte Hölzchen über die Schulter und erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde zu einem Schattenriss, bevor ihn eine Explosion zusammen mit seinen Kameraden, dem Mercedes, und der Möglichkeit zu einer anderen Fortsetzung der Geschichte zerriss und zu Asche zerfallen ließ.
Sergeant Henryk Kwiatkowski von den erst vor Wochen formierten internationalen Brigaden fühlte sich seltsamerweise an den Griechisch - Unterricht am katholischen Gymnasium von Drohobycz , weit entfernt im Osten Polens, erinnert. Göttervater Zeus mochte auf ähnliche Weise impertinente antike Heroen gezüchtigt und mit seinem Blitz in stiebende, stinkende Flugasche verwandelt haben.
Henryk hatte einen Beobachtungsposten auf dem Dach eines geräumten sechsstöckigen Mietshauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite bezogen. Im Erdgeschoss befand sich eine Bar, vor der sich aufgeplatzte und chaotisch übereinander geschichtete Sandsäcke wie sinnlos betrunkene Zecher aneinander lehnten. Die Eruption unten auf der Strasse überschüttete
selbst den Beobachter auf dem Dach mit einer Schicht Staub, die in Nase und Augen brannte und den penetranten Geruch verbrannten Fleisches mitbrachte. Henryk taumelte von seinem Fernrohr zurück, das auf einem Stativ aus den Resten einer Esszimmereinrichtung befestigt und hinter einem Erker versteckt war, und erbrach sich in eine Dachluke. Der Staub schien sich unterdessen in Höhe des Daches zusammenzuballen und zu einer Gestalt zu formen. Sie hatte die unbestimmbaren Züge eines Phantoms und die Gestalt eines Riesen, der einen Arm in einer Geste, vielleicht des Abschieds, erhob.

Das sich mit der Explosion auch die Zukunft des Sergeanten Kwiatkowski ein für allemal entschied, konnte dieser zum geschilderten Zeitpunkt noch nicht ahnen.


Ob sein turbulentes Leben auf diesem Hausdach endete, das fünfundzwanzig Jahre zuvor in einem von Gott und den meisten Bewohnern verlassenen und seiner endgültigen Vernichtung durch schwarz uniformierte SS- Einsatzgruppen einige Jahre später entgegen dämmernden ostpolnischen Stetl begann, muss jedoch eine uns nicht bekannte Fußnote des Bürgerkrieges bleiben.
Bekannt ist lediglich sein Weg dorthin. Zuerst wurde ein barfüssiger Gassenjunge aus einem heruntergekommenen Arbeitervorort der polnischen Hauptstadt zum Agitator für die kommunistische Partei, und lieferte sich so erfolgreich wie regelmäßig Saalschlachten und Straßenkämpfe mit den antisemitischen Anhängern Marschall Pilsudskis. Von der Universität Karolina zu Prag war Henryk Kwiatkowski schnell zur Gegenolympiade zum Berliner Nazi-Spektakel nach Barcelona weitergezogen , und zerlumpt und bärtig wie ein Landstreicher nach illegaler Pyrenäenüberquerung ohne Pass eingetroffen. Und kaum hatte der Student zu Rasiermesser und Seife gegriffen, war der Republik von den Militärs des Generals Franco der Krieg erklärt worden , und auf den Straßen der spanischen Hauptstadt wurde geschossen .
Eine Tafel am Denkmal der Internationalen Brigaden auf dem Friedhof Fuencarral trägt unter seinem Namen den Vermerk „vermisst“. Daher besteht immerhin die Möglichkeit, dass dieser regnerische Novembertag nicht sein letzter war. Zu jenem Zeitpunkt war Henryk Kwiatkowski jedoch schon aus unserer kurzen Geschichte verschwunden, und wir sollten die Ereignisse sich der Reihe nach entwickeln lassen.

Ein sturzbachartiger Regen brachte die faschistische Artillerie auf der anderen Seite des Flusses, an der französischen Brücke, mit einer Plötzlichkeit zum Verstummen, die schmerzhaft auf die Ohren drückte.
Ihr Funken sprühendes Mündungsfeuer löste sich in zwei Rauchpilzen auf, die in kürzester Zeit emporschossen wuchsen und mit dem Abendwind davontänzelten.

Seinen Posten zu verlassen, war auch im Spanien des Bürgerkrieges und der Interbrigaden ein kapitaler Regelverstoß eines Soldaten, und endete in der Mehrheit der Fälle vor einem Erschießungskommando. Was den Sergeanten Kwiatkowski zu diesem Schritt trieb, wird schon deshalb im Dunkeln bleiben müssen, weil ihn danach nie wieder jemand zu Gesicht bekam, oder dies zumindest nicht angab.

Henryk hatte sich unter einem überlappenden Dacherker zusammengekauert, und versuchte, sich mit den Fingern einer Hand eine Zigarette zu drehen. Gelegentlich schickte er einen tastenden Blick durch den Regen, der zusammen mit den wechselnden Windrichtungen und den in verschiedenen Farben gleißenden Suchscheinwerfern der republikanischen Luftabwehr ein viel farbiges und vibrierendes Muster in die Luft webte. Daraus schälten sich die bröckelnden Backsteinumrisse der Mila- Straße in Warschau . Um die Mila- Straße gruppierte sich das jüdische Viertel der polnischen Hauptstadt.
Hausfrauen mit buntgemusterten Kopftüchern und riesigen Einkaufskörben bahnten sich zwischen schwarzgekleideten bärtigen Ostjuden, deren Schläfenlocken sich bis zum Unterkiefer ringelten, und kleinen Jungen auf dem Weg zur Cheder, der Talmudschule, ihren Weg durch die Menge. Straßenhändler buhlten in breitem Warschauer Jiddisch um Aufmerksamkeit für ihre zumeist auf Handkarren arrangierte Ware, bei der es sich um Verschiedenstes handelte, von Kohlköpfen und Zwiebeln bis zu billigen Haushaltsartikeln oder aus der Tschechoslowakei geschmuggelten Parfums.
In den Geruch nach nicht mehr ganz frischem Fisch vom unteren Ende der Straße mischten sich Duftwolken aus selbstgebranntem Schnaps und Tabakrauch, die schon um die Mittagszeit aus den Kneipen nach draußen drängten.................................

Die marokkanischen Kolonialsoldaten auf der anderen Seite des Manzanares hätten jetzt sicherlich lieber Wasserpfeife rauchend und trocken in Fes oder Tanger gesessen, und verspürten kaum große Lust , bei diesem Wetter ihre Unterstände zu verlassen, und im Regen zu verbluten . Aber auch wenn sie einen Überraschungsangriff gewagt hätten, wäre Henryks Sturmlaterne kein probates Mittel dagegen gewesen . Ihr Schein, der den nächsten Posten auf dem Dach des Hotels „Majestic“ eine Straße entfernt veranlassen sollte, Alarm zu schlagen, wäre schon auf dem Weg dorthin weggewaschen worden. Dazu kam lediglich ein rostfleckiges Gewehr, das vielleicht im Krieg von 1898 den US-amerikanischen Invasoren Kubas Respekt eingeflösst hatte. Selbst eine ganze Batterie davon hätte die mit Waffen aus Nazi-deutscher Produktion wohl versorgten Faschisten jedoch kaum beeindruckt.
Und Funkgeräte waren in Frontnähe ein unkalkulierbares Risiko geworden, da die andere Seite darüber hinaus über von Mussolinis Regime gelieferte Peilsender verfügte, nach denen sie ihr Feuer ausrichteten.
Zumindest ist anzunehmen, dass der Sergeant Kwiatkowski über ein Funkgerät nicht verfügte. Anderenfalls wäre sein Verbleib möglicherweise geklärt.

Das von Henryks Imagination auf die Regenwand projizierte Bild blähte sich für einen kurzen Moment von einer Windböe gebauscht auf, und begann wie eine beschädigte Filmrolle Lücken und Risse zu zeigen, um sich schließlich in zahlreiche einzelne Punkte aufzulösen, die mit dem Regen der Erde entgegensanken.
Aber nicht alle folgten der Schwerkraft . Einigen wuchsen Flügel, und sie erfüllten die Nachtluft mit einem leisen trockenen Klatschen, das wie das Geräusch von sechs Stockwerke tiefer auf dem Asphalt aufschlagenden Körpern klang.
Zuerst war noch nicht offensichtlich, was mit den Tauben vor sich ging. Dass diese Tiere aber nicht auf Brotkrumen und besseres Wetter warteten, musste dem Sergeanten Kwiatkowski bald klar sein. Das seine Reaktion darauf ihm selbst zum Verhängnis werden sollte, dagegen nicht.
Vielleicht schaffte der Schatten, den der Schwarm warf, den Eindruck einer riesenhaften Hand mit lichtdurchschossenen Adern entlang der Stellen, wo die Suchscheinwerfer der Luftabwehr auf gefiederte, kleine Körper trafen. Die Tauben bewegten sich dabei absolut synchron, als würden sie tatsächlich von in einer Hand zusammenlaufenden Fäden dirigiert.
Schließlich begann sich die Flugformation der Tiere zu verändern und zu bersten, wie eine schwarze, drohende Wolke, die einen Teil ihrer Substanz abregnen will, um weiter zu ziehen .Der Marionettenspieler brockte Tauben vom Himmel wie Croutons in eine Suppe. Dabei schienen die Vögel einen Moment lang im freien Fall zu verharren, und bildeten dann einen flatternden, gurrenden Strudel, der sich unvermittelt in eine Aufwärtskehre verwandelte. Am Ende hatten die Vögel einen abwärts gerichteten Halbkreis beschrieben , an dessen Ende sie im vollen Flug zwischen ihre Artgenossen prallten.
Auf Henryks Dach hagelten bald blutüberströmte gefiederte kleine Meteoriten.

Dass der Sergeant Kwiatkowski sich zu einer emotionalen Kurzschlusshandlung hinreißen ließ , während, oder weil in der Luft dazu eigentlich nicht geformte Taubenschnäbel Fleischfetzen aus ahnungslosen Taubenbäuchen rissen, und eine Taubenversion des Luftkampfes um Madrid aufführten, ist nicht mehr als eine Vermutung. Der sogenannte „Frontkoller“, wie die Soldaten des ersten Weltkrieges sagten, wobei meist traumatisierte Kämpfer ihre Waffen gegen sich selbst oder ihre Umgebung richteten, stellt dagegen ein aus Augenzeugenberichten und der Literatur gut dokumentiertes Phänomen dar. Wir besitzen zwar keine Hinweise darauf, dass beim Sergeanten Kwiatkowski entsprechende Anzeichen vorgelegen haben könnten. Allerdings sprechen Angehörige beider an den Kämpfen beteiligter Seiten von wahrscheinlich auf einem Hausdach an der Casa del Campo die Dunkelheit mit winzigen Lichtpunkten sprenkelnden Schüssen, die einen durch den Regen einseitig erklärten Waffenstillstand in der fraglichen Nacht vom 7. auf den 8. November 1936 an der französischen Brücke abrupt aufkündigten

Henryk hatte, um besser sehen zu können, seinen improvisierten Sitz unter dem Erker verlassen, und bemühte sich jetzt, ein fragiles Gleichgewicht mit einem Fuß auf der verbogenen Dachrinne und mit der linken Hand an einem vom Regen glitschigen Blitzableiter zu halten. Ein einzelner Taubenflügel, aus dem auf der abgetrennten Seite eine rötliche Masse quoll, streichelte seine Wange, und verschwand winkend über die Dachkante.

Federn vermischt mit Kadavern, denen zumeist Körperteile und manchmal auch der Kopf fehlten, bildeten einen graubraunen, schlüpfrigen, vom Regen durchweichten Film auf den Dachziegeln. Henryks Griff um den Blitzableiter löste sich, und er taumelte ins Leere.

Surrealistisches Manifest

Surrealistisches Manifest

Lass uns beginnen, „Lethargie“ falsch zu schreiben,
und das Wörtchen „warum“ vergessen,
mit Sonnenuhren die Nacht zertrümmern,
als Komet am dunklen Himmel schimmern,
und mit den Händen Mondkrater ausmessen,

Lass uns Sterne von Brücken werfen,
die lachend implodieren,
und im letzten Moment noch einmal winken,
bevor sie gischtend im Wasser versinken,
und blubbernd Verse skandieren

Lass uns nackt auf den Straßen tanzen,
und goldene Kälber anpinkeln,
und mit brennenden Fragen die Hirne aufschrauben,
und den herausflatternden Tauben,
sehnsüchtig hinterher winken.


Andreas Armann

Donnerstag, 22. Januar 2009

Die Sonne über dem Kilimandscharo

Die Sonne über dem Kilimandscharo


Einige verunstaltete Schirmakazien , mit von Elefantenrücken blankgescheuerten Stämmen und von gierigen Rüsseln abgeweideten Astkronen , hatten sich in Erwartung des nächsten Ansturms der Tiere zusammengedrängt. Von seinem Standort sahen sie aus wie eine Gruppe verschüchterter, verkrüppelter Wesen mit ausladenden Hüten, die im Savannenwind zitterten.
Der Amboseli-See schimmerte einen Lidschlag weiter westlich mit noch unscharfen Umrissen smaragdgrün durch den Morgennebel. Schwarze Basalthügel ragten überall dort aus der Ebene, wo der Kilimandscharo in früheren Zeiten sein Magma hingespuckt hatte. „Götterkotze“ nannten manche Massai die spitzen Kegel, die wie Inseln in einem graubraunen Meer schimmerten. Dieses wich nur unter Protestgeschrei allmählich den Strahlen der Morgensonne, das zuerst wie hornissengepeinigte Zebras und dann nach schläfrigen Kronenkranichen klang, die sich vor dem hungrigen Gebrüll eines Löwen aber sofort zurückzogen. Schließlich gab es den Blick auf die versteppte, narbige Trockensavanne des Amboseli frei. Nur an wenigen Stellen waren krüppelige Bäume auf das staubige Gras getupft, und auch das verschilfte Wasser des Sees, auf dem Schaumkronen tanzten hatte bei normalem Tageslicht einen schmutzigen braunen Farbton angenommen.
Die menschlichen Bewohner der Ebene machten sich allmählich bemerkbar. Um diese Uhrzeit noch spärliche weiße und graue Kleinbusse mit geöffnetem Verdeck begannen auf die Jagd zu gehen. Sie wirkten mitsamt ihrer Ladung aus gestikulierenden und schnatternden Musungus wie ein Bestandteil der Tierwelt. Diese Tiere jagten alles, was sich im Park bewegte. Hatten sie einen Elefanten, eine Giraffe oder ein Gnu gestellt, stießen sie einen Siegesschrei aus, der sich wie eine Mischung aus halbunterdrücktem Lachen und dem Klicken von Fotoapparaten anhörte. Hatten sie ihren Hunger gestillt, begaben sie sich auf die Suche nach ihrem nächsten Opfer. Wie eine Elefantenherde markierten sie dabei ihren Weg mit Ausscheidungen, bestehend aus Cola- Dosen, Filmschächtelchen und Kaugummi- Papieren.
In der Tradition der Massai hatte er bis jetzt Blickkontakt mit der Schneehaube des Kilimandscharo vermieden. Manche waren immer noch überzeugt, das Ngai sich Menschen holte, welche die Augen nicht von seinem Sitz abwandten. Oft suchten sich Alte oder Kranke, die das Gefühl hatten, ihren Familien zur Last zu fallen, sogar bewusst einen Ort mit guter Sicht auf den Gipfel. Meist verschwanden sie dann einfach. Sie wurden von Ngai gerufen, und setzten einen Fuß vor den anderen, bis sich ihre Spuren im Geröll oberhalb der Baumgrenze verloren. Manche hatten sich vielleicht in den Krater gestürzt, andere waren nicht so weit gekommen, und hatten offensichtlich Tieren als Nahrung gedient. Sie erschreckten jetzt mit ihren säuberlich abgenagten Schädelknochen, die manchmal unter Wanderstiefeln barsten, Touristen. Jedenfalls war niemand jemals wieder herabgestiegen.
Warum Ngai taub gegenüber dem sonoren Rattern der Planierraupen war , die den Grund für Lodges bereiteten , wo livrierte Kellner südafrikanischen Chardonnay und Austern servierten und man das Wasser für Swimming- Pools voller kreischender weißer Musungu- Kinder aus dem Amboseli-See abpumpte und chlorierte , entzog sich seiner Vorstellungskraft.
Es war auch noch keines der unzähligen Kleinflugzeuge, die im Tiefflug über den Krater donnerten in einer plötzlich auftauchenden Nebelwand aufgelöst oder von einem Blitz in stiebende Ascheflocken verwandelt worden.
Manche Alte meinten, Ngai sei selbst mit den Jahren schwach und zitterig geworden, nur das dies bei Göttern eben länger dauere. Und vielleicht erging es daher den Massai ähnlich wie den farbenprächtigen Urlaubsfotos, die Touristen von ihnen schossen. Diese vergilbten zwischen Buchdeckeln und in Alben und wurden mit der Zeit matt und fleckig. Tanzende Krieger in leuchtenden roten und blauen Röcken, mit Kupferarmreifen, bis auf die Schultern gedehnten Ohrläppchen und behängt mit termitenzerfressenen Löwenfellen von vor Generationen erlegten Tieren waren nur noch immer unschärfere Erinnerungen an andere Zeiten.
An Zeiten, als die Massai noch Rinderherden besessen hatten, die keine von Musungus gezogenen Straßen queren und an keinen Zäunen haltmachen mussten.
An Zeiten, als die knotigen und immer wieder neu eingeritzten Linien auf der Haut der Jäger noch für jeden klar ihre Geschichte erzählten , und niemand Musungus dazu brauchte, die aus einem Ort namens Hollywood in Amerika kamen.
An Zeiten, bevor ein deutscher Missionar im Jahr 1856 einen Massai nach dem Namen des Berges fragte und dieser antwortete : „ Kili mandscharo ?“, was in seiner Sprache soviel bedeutet wie „ Ich verstehe nicht.“
Vielleicht sterben Götter, wenn ihr Name in Vergessenheit gerät. Sie vereinsamen und sterben langsam, und suchen nur manchmal unsere Träume heim.
Lächelnde junge Mädchen würden bald beginnen, den Musungus vielarmige geschnitzte Figuren aus falschem Ebenholz zu verkaufen. Unter den Röcken würden sie Jeans tragen. Gegen die morgendliche Kühle.
Die Sonne stand jetzt genau über der Schneehaube des Berges und ließ seine Augen tränen. Es war Zeit zu gehen.


Andreas Armann

Leuchtet ihre Uhr im Dunkeln ?

„Leuchtet ihre Uhr im Dunkeln?“

An einem so trivialen und gesichtslosen Ort wie einer Einkaufspassage meiner Heimatstadt T. zur Vorweihnachtszeit kann nur eine wahre Geschichte beginnen. Es gehört etwa die Kreativität einer Milchglasscheibe dazu, Bilder von hektischen Einkäufen an einem Adventssamstag zu spiegeln, es sind dazu nicht viele Worte nötig. Zwischen lamettabekränzten Kümmerbäumchen, rotnasigen Nikoläusen mit nikotinverfärbten Bärten und hunderten Paketen verschiedener Größen , die manchmal einen Unterbau aus zwei Beinen besitzen und sich von diesen in verschiedene Richtungen fortbewegen lassen, hätte ich keine Geschichte gesucht.
Wasser tropft glucksend von der Decke und rinnt mir in den Kragen. Jemand hat den modrigen leerstehenden Kelleraum vor Jahrhunderten in die Eingeweide der Stadt gefräst . Jetzt rutsche ich auf dem glitschigen Untergrund herum und versuche mich zu erinnern, wie ich hierher geraten bin. Meine einzige Lichtquelle ist das erleuchtete Zifferblatt meiner Uhr, das ein grünliches Stempelzeichen auf schimmelfleckigen Wänden hinterlässt. Draußen stehen Christbäume in den Fenstern und schiefe Kinderstimmen plärren „Stille Nacht“. Ich habe indes noch kein Interesse daran, mein lichtloses Refugium zu verlassen.
„Leuchtet ihre Uhr im Dunkeln?“ Der Spruch löste sich aus einer Schaufensterauslage, sprang mich an und verbiss sich in eine Synapse meines Gehirnes. Dabei bildete er bereits nach kurzer Zeit ein Spinnenetz aus endlosen mantrahaften Wiederholungen, die mir bald befremdete Blicke eintrugen. Ich besitze einen Magistertitel, etwas Geld , und eine kleine Bibliothek samt eines Weinkellers. Ob ich auch eine Uhr dazu zählen durfte , die im Dunklen leuchtet, ließ mir von diesem Moment an keine Ruhe mehr. Unglücklicherweise hatte mich mein Weg mitten am Tage in das Einkaufszentrum geführt, so das die Gelegenheit zu einer Probe noch auf sich warten lassen würde. Ich betrat also ein Cafe , von dem ich die Auslage des Uhrengeschäftes im Blick hatte, und rief mir immer wieder den Grund für meine Anwesenheit an diesem Ort in Erinnerung. „Leuchtet ihre Uhr im Dunkeln?“ Von einem Foto grüßte ein braungebrannter Mann mit Pilotenmütze und Sonnenbrille, der seinen Doppeldecker auf einer Wanderdüne gelandet hatte. Der Text besagte etwa folgendes, aber genau erinnere ich mich nicht mehr : „ Ursprünglich einmal entwickelt für die Anforderungen von Kampfpiloten der US- amerikanischen Luftwaffe vereinen unsere Modelle edle Optik mit aufwendig gestalteter Präzisionstechnik.“ Der Text ging weiter und listete eine Reihe von Leistungen der Uhr auf, die als Frage und Antwort Spiel gestaltet waren. Alles von Bedeutung schrumpfte jedoch in einem einzigen Satz zusammen. „Leuchtet ihre Uhr im Dunklen ?“
Ich war nicht im Stande, etwas zu trinken oder zu essen, und wanderte mit den Augen vom Zifferblatt meiner Armbanduhr zu der langsam erkaltenden Tasse Kaffee vor mir , deren Inhalt ich sporadisch in den Blumenkübel hinter meinem Rücken kippte.
Eine schwarzhaarige eidechsenäugige Frau am Tresen rauchte parfümierte Zigaretten aus einem silbernen Mundstück und fixierte mich stundenlang über den Rand ihres Mobiltelefons hinweg. Als ich schließlich reagierte , von meinem Fensterplatz an die Bar wechselte und ihr die Frage stellte, die mich mehr als jede andere beschäftigte, ( „Leuchtet ihre Uhr im Dunkeln ?“) geschah jedoch etwas merkwürdiges.
Ihre kajalumrundeten dunklen Augen verzerrten sich , und eines knallte im nächsten Moment unangenehm gegen meine Stirn. Es war ein Glasauge, das sie herausgenommen und nach mir geworfen hatte. Mit einer blaurot schillernden Beule zwischen meinen Augenbrauen zahlte ich und beschloss die Antwort auf meine Frage anderswo zu suchen.
Die frühe Dämmerung eines diesigen Dezembertages brach langsam herein und meine in den Hosentaschen zusammengeballten Hände begannen vor Aufregung zu zittern.
Ich ließ mich durch die Straßen treiben ohne meiner Umgebung Aufmerksamkeit zu schenken. Einige Male nahm ich quietschende Autoreifen und Flüche in meiner Nähe wahr. Herbeieilende hilfsbereite Passanten wussten auf meine Frage ( „Leuchtet ihre Uhr im Dunkeln ?“) keine Antwort, und sperrten lediglich den Mund zu einem Fragezeichen auf.
Ich aber war ohnehin bereits weitergezogen, da mir auf meinem Zifferblatt lediglich Scheinwerfer und leuchtende Christbaumkugeln zuzwinkerten, aber nichts von innen heraus glomm.
Es war eine mondhelle Nacht und ungewöhnlich klar für die Jahreszeit. Der Erdtrabant grinste ohne es mit einem einzigen Wölkchen aufnehmen zu müssen, höhnisch auf mich herab und schien zusammen mit meiner wachsenden Verzweiflung kugeliger und heller zu werden.
Eine moosbewachsene Kelleröffnung tat sich neben mir auf. Beißender Hundeurin attackierte meine Nase und wagte zusammen mit einem Verbotsschild den hoffnungslosen Versuch, mich davon abzuhalten, in die Dunkelheit abzusteigen. Mein Atem beschleunigte sich und bildete flauschige stiebende Wölkchen , die meinen Weg markierten , bis auch sie vor dem lichtlosen Kelleraum am Ende einer Wendeltreppe zurückblieben.
Und meine Uhr leuchtete ! Sie schimmerte wie ein graugrüner magischer Kreis, und erfüllte mich mit einem Gefühl unsagbarer Erleichterung.
Nicht sofort erkannte ich, das ich den Sternenhimmel in der hohlen Hand hielt. Dann sah ich auf dem Zifferblatt den Mond, den Mars und die Venus , vom Andromeda – Nebel umwabert. Großer Bär und Wagen, Sirius und Polarstern fanden alle Platz unter dem matten Uhrenglas.
Als ich mich wieder aus dem Keller nach draußen tastete hatte ich keine Ahnung wie viel Zeit vergangen sein mochte. Jedenfalls hatte der Sonntag bereits begonnen und ich machte mich wie ein übernächtigter betrunkener Zecher auf den Heimweg. Vom Winter skelettierte Alleebäume standen mir stumm Spalier, der Himmel hatte die Farbe von abgestandenem Wasser, und ich begegnete keiner Menschenseele.
Seitdem sitze ich jede Nacht in meinem Keller und folge den Bewegungen der Himmelskörper in meiner Hand. Ich verwahrlose zusehends, esse und trinke kaum noch . Meine Wangen sind eingefallen, und meine Augen rot und entzündet. Nur gelegentlich ziehe ich meine Uhr auf, damit mein Herz nicht stehen bleibt.


Andreas Armann

Mitten in der Nacht

Mitten in der Nacht

Mitten in der Nacht sind die Glocken verstummt,
Kirchtürme imitieren Betrunkene ,
und suchen torkelnd einen Weg nach Hause.

Mitten in der Nacht hält der Mond auf seiner Bahn inne,
entsetzt beobachtet er deformierte Wolkenschafe,
die Sterne vom Himmel knabbern.

Mitten in der Nacht tropft schleimige Zeit aus Uhrwerken,
wie mit dem Zeiger abgehackte Tränen,
in deine leeren Kissen.


Andreas Armann

Die Augen aus Glas

Die Augen aus Glas

Ich traf einen Mann mit Augen aus Glas,
und Fingern gekrümmt wie ein mäandernder Strom,
und in der Hand einen Zettel, von dem er las,
ein Gedicht, die Worte von hinten nach vorn.

Und ich sah den Mann, mit den Augen aus Glas,
von hinten beschienen vom papierenen Mond,
und in der Nacht war ein Laut, den ich nicht mehr vergaß,
ein schriller, die Zeilen zersplitternder Ton

Schließlich rief er : Mensch, werde wesentlich,
und steif wie ein Stock stand ich da,
Und die verbogenen Verse begradigten sich,
und raunten von etwas , was war




Andreas Armann

Ich habe die Stadt aufgegessen

Ich habe die Stadt aufgegessen



Ich habe die Stadt aufgegessen ,
und seitdem darüber sinniert,
warum Parkbäume aus meinen Ohren wachsen,
und mein Magen Straßen planiert

Ich habe die Stadt aufgegessen,
und niemanden informiert,
das Grashalme aus meiner Kopfhaut lugen,
darunter sind Fenster platziert

Ich habe die Stadt aufgegessen,
und erst nach und nach realisiert,
dass in mir Plätze voll Menschen denken,
bis eine Idee das Gedicht komplettiert



Andreas Armann

-Redselig-

Literatur von Andreas Armann

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